Eine Betrachtung
von Ingo Kahle

 

„Hast Du Angst vor dem Sterben? Hast Du Angst vor dem Tod? Glaubst Du an ein Leben nach dem Tod?“ Drei zentrale Fragen des Lebens, die mir im Jahr 2023, entspannt auf einer Liege ruhend, die ein Sterbebett symbolisieren soll, in der Ausstellung „un_endlich – Leben mit dem Tod“ im Humboldt Forum im Berliner Schloss gestellt wurden, Ich arbeite ehrenamtlich in der Sterbebegleitung. Das „un_endlich“-Thema ist also kein Tabu für mich. Ich will hier – ausdrücklich nicht im Sinne eines Ausstellungsberichtes – teilen, was mich um diese drei Fragen rankend bewegt. Dies ist also kein Bericht über eine – vergangene – Ausstellung. Es sind Gedanken zum Thema. welche die Schau dauerhaft in Erinnerung bleiben lassen.  

Die Verantwortlichen im Humboldt Forum zogen übrigens nach der halbjährigen Ausstellungszeit eine positive Bilanz. Rund 40.000 Besucher aus allen Altersgruppen wurden gezählt. Das Konzept, das Thema als „Drama in fünf Akten“, also gewissermßen als Theater-Erlebnis, darzustellen, sei vom Publikum sehr gut angenommen worden.

Angst vor dem Sterben, aber keine Angst vor dem Tod?

 

Keine Angst vor dem Tod? Umfrahe-Ergebnis Mai 2023, 9047 Befragte.

Keine Angst vor dem Tod? Ja: Nein.Umfrage.

 

Angst vor dem Sterben? Umfrage in

Hast Du Angst vor dem Sterben? Ja:Nein, 

 

Im dritten Raum; Ich lege mich, als wäre ich beim Psychiater, auf eine Liege und höre im Kopfhörer eine ruhige Frauenstimme. Ich mag diese einschläfernde Psycho-Tonlage nicht. Egal. Sie stellt mir eine Reihe von Fragen, darunter die anfangs zitierten. Die Ergebnisse sehe ich auf einem Monitor genau in jenem Raum, der am ehesten geeignet sein könnte, einem die Angst vor dem Sterben zu nehmen. Stand Mitte Mai (Fotos) sehe ich: Bei der Frage nach der Angst vor dem Tod überwiegt laut dieser Umfrage deutlich das „Nein“. Bei der Frage nach der Angst vor dem Sterben wird hingegen mehrheitlich mit „Ja“ geantwortet. Vielleicht ist hierin ja auch die Angst vor jenen Schicksalen enthalten, die dem finalen Moment des Sterbens vorausgehen können: Die Furcht vor einem Leidensweg mit einer schweren, lebensbedrohlichen Krankheit.

In einem Anflug von schwarzem Humor scherze ich gern: Das Schöne am Tod ist, dass man nicht mitbekommt, wie die von mir so geliebte Familie meinen Tod beweint. Es würde mir das Herz zerreißen! Aber im Ernst: Die Tabuisierung der eigenen Endlichkeit im Bewusstsein der Menschen rührt doch auch daher, dass man den Zeitpunkt des eigenen Todes und die Ursachen seines Eintretens nicht bestimmen kann. Ich habe gerade im Hospiz eine fast 95 Jahre alte Dame, schon etwas dement, erkrankt an einem Mamma-Karzinom, erlebt, die mich bei jedem Besuch fragte: „Warum muss ich mich so quälen? Ich will sterben!“ Sie sehnte ihren Tod herbei, ihr Sterben, vor dem sie dennoch Angst äußerte, stellte sich letztlich als sanftes Entschlafen dar,

Welch ein Unterschied aber zum Leidensweg des Mannes, den ich hier im Blog unter dem Titel „Tschüss – Eine Sterbebegleitung“ schildere, Todessehnsucht, das Leben loslassen können nach einem langen, mit schwerer Krankheit endendem Leben und Überlebenswille im Angesicht einer lebensbedrohlichen Krankheit – beide hatten Angst vor dem Sterben, aber die Frau sehnte ihren Tod herbei. der Mann hing am Leben und wünschte sich dabei die Erträglichkeit seines Leidens.

 

Wer mit dem Tod leben muss.

 

Jeder Mensch muss mit der Tatsache, dass alles Leben tödlich endet, leben. Und manche damit, dass geliebte Menschen tot sind. Meine zweite Frau, Nichtraucherin, hat der Lungenkrebs im Alter von 56 Jahren buchstäblich von innen heraus aufgefressen. Die Frau meines Freundes, 61, Darmkrebs, Lesen Sie hier im Blog: „Begleitung im Sterben – Lucy geht von uns.“ Eine Bekannte, 60, Mamma-Karzinom, langes Leiden, sanftes Sterben. Jedoch: Wir haben alle drei in großem Schmerz beigesetzt, „Leben mit dem Tod“ ist eben leider auch das: die Unfassbarkeit ertragen zu müssen, dass ein geliebter Mensch einfach nicht mehr da ist. Daran können Menschen zerbrechen.

Und auch dieser Gedanke kommt mir beim Betrachten einer Statistik auf einem Monitor in der Ausstellung: Dass Eltern vor ihren Kindern sterben, ist der Lauf des Lebens. Das Umgekehrte ist schier unerträglich. Dargestellt ist die Säuglings- und Müttersterblichkeit in vielen Ländern der Erde.


Die Angst vor dem Sterben nehmen.

 

Höhepunkt von „un_endlich“ ist für mich „Akt 3 – „Der finale Moment.“. Ich stelle mich auf einen Kreis vor einer Reihe von Kabinentüren. Als mich der Scheinwerfer anleuchtet, darf ich in die schwarz ausgekleidete Kabine eintreten und setze mich auf einen Schemel. Wieder diese Stimme. Diesmal erklärt sie mir, was in meinem Körper vorginge, sollte ich jetzt sterben. Vorhersehbares Ende: „Jetzt bist Du tot.“

 

Ich verlasse die Kabine. Ein hier eigens verlegter, gummierter Bodenbelag dämpft jeglichen Trittschall. Im ersten Moment bin ich beklommen, Doch dann denke ich: Muss ich mich vor dem Prozess des Sterbens fürchten? Je nachdem… Muss ich wirklich Angst vor dem finalen  Moment meines Daseins haben? Jetzt mal abgesehen davon, wie außerordentlich bedauerlich es für mich wäre, jetzt sterben zu müssen ,und wenngleich die Umfrage ja auch ergibt, dass die Befragten nicht ewig leben wolle: Wir hören diesen Text bei vollem Bewusstsein. Ob wir den Prozess des Sterbens so bewusst erleben – und uns in dem Moment sozusagen mit Händen und Füßen dagegen wehren wollen, erscheint mir danach fraglich. Das Problem ist aber eben der Weg dorthin, wenn er wie gerade beschrieben verläuft und nicht – nach dem Motto meines früherer Hausarztes, Dr. Willi Heepe: „Fit in die Urne!“ Die Angst vor einem Leidensweg lindern kann allenfalls das Wissen um die Möglichkeiten der heutigen Palliativmedizin, Leiden einigermaßen zu lindern. Einigermaßen. Denn im Falle einer Krebserkrankung den Verfall des eigenen Körpers erleben zu müssen, ist grausam. Die Furcht davor ist verständlich und kann allenfalls vorbeugend durch die eigene Lebensführung gemildert werden.

 

Der experimentelle Neurologe sagt: Keine Angst!

 

Der in diesen Kabinen zu hörende Text beruht auf den Erkenntnissen des experimentellen Neurologen Jens Dreier, Professor am Berliner Centrum für Schlaganfall-Forschung und Oberarzt der neurologischen Klinik der Charité. Im lesenswerten Buch zur Ausstellung wird er gefragt, ob wir uns vor dem Sterben fürchten müssen. „Heute haben wir viele Möglichkeiten, uns das Sterben zu erleichtern, beispielsweise durch die richtige Schmerztherapie, die Leiden minimiert und professionelle Sterbebegleitung. Vor diesem Hintergrund muss man meiner Ansicht nach im Regelfall keine Angst vor dem Sterben haben.“ (Seite 108) Dreier berichtet auch über Menschen mit Nahtod-Erfahrungen, die von den Patienten in über 90 Prozent der Fälle als positive Erfahrung empfunden worden seien..

 

Eingang zu den Kabinen, in denen der finale Moment beim Sterben erklärt wird. Foto: Kahle

Ein Höhepunkt: Was passiert im Körper, wenn Du stirbst? Bitte jetzt in die Kabine eintreten.

 

Die Riesenwellen beim Sterben

 

Im Buch zur Ausstellung habe ich später Erklärungen über ein Phänomen nachlesen können, das mich in der Kabine verwundert hatte: Nachdem die Stimme mir gesagt hat, ich sei nun tot, beginnen die Leuchtdioden-Ketten über mir wild zu blinken und zu flackern. Es setzen die „Riesenwellen“ ein, die „Spreading Deplorations“. Das ist mir neu. Ich dachte immer, das passiert vor dem eigentlichen Eintreten des Todes, weil man bei sterbenden Menschen manchmal eine gewisse Unruhe beobachten kann. Jens Dreier erklärt das Phänomen der Riesenwellen im Buch so und zeigt dazu auch entsprechende bildliche Darstellungen: „Wenn ein plötzlicher Herz-Kreislauf-Stillstand eintritt und das Herz vollständig aufhört zu schlagen, gibt es eine Phase, in der die Hirnaktivität möglicherweise sogar noch ein bisschen zunimmt. Nach ungefähr 30 oder 40 Sekunden endet diese Aktivität. Das Wichtige ist: Das Ende der Aktivität resultiert aus einer starken Hemmung der Nervenzellen, die jedoch weiterhin lebendig und elektrisch geladen bleiben. Die Nervenzellen sparen auf diese Weise Energie. Ein bisschen Energie wird aber weiterhin verbraucht, bis irgendwann nicht mehr genug in den Zellen vorhanden ist. Dann versagen die energieabhängigen Ionenpumpen der Zellmembran und die Riesenwelle tritt auf. Die ist aber nicht der Tod, sondern die Welle leitet die Prozesse ein, die zum Absterben der Nervenzellen führen. Auch das dauert nochmals eine gewisse Zeit. Ausgehend von einer normalen Körpertemperatur und einem erwachsenen Menschen würde man sagen: Wenn ein plötzlicher Herz-Kreislauf-Stillstand eintritt und keine Reanimation erfolgt, beginnt das Absterben der Nervenzellen schätzungsweise zwischen 5 und 10 Minuten nach dem Ende der Kreislaufaktion.“ (S. 103)

 

Der finale Moment: Die Riesenwelle, Foto: Ingo Kahle

In der Kabine: Die Riesenwelle nach dem Tod.

 

Schlaganfall: Schnelle Reanimation ist wichtig!

 

Dreier vergleicht das mit einer elektrischen Batterie. „Das heißt, mit der Welle verlieren die Nervenzellen ihre elektrische Ladung. Entsprechend gibt es dann keine Energie mehr, um noch Impulse zu generieren. Was ich persönlich aber wichtig finde, ist, dass die ‚Spreading Depolarizations‘. nicht die Welle des Todes ist. Das ist falsch. Die Welle leitet toxische Prozesse ein, dann dauert es eine Weile, und dann sterben die Nervenzellen ab. Kommt es nach Einsetzen der Welle aber rechtzeitig zu einer Erholung der Hirndurchblutung und Energieversorgung, ist die Welle bis zu einem bestimmten Zeitpunkt noch vollständig reversibel, und die Nervenzellen können sich auch wieder erholen. Beim Schlaganfall können die Wellen auch weit in normal durchblutetes, gesundes Gewebe hineinwandern und haben dort möglicherweise für den Organismus wichtige Signalfunktionen, sodass ihre Effekte nicht immer nur schlecht sein müssen. Das ist alles sehr kompliziert.“ (S. 104) Das zeigt, wie wichtig im Falle eines Schlaganfalls eine rasche Reanimation ist, wie wirksam eine rhythmische Massage der Herzregion sein kann, um wieder Blut ins Hirn zu pumpen.

 

Der weiße Tunnel

 

Menschen mit Nahtod-Erfahrung berichten, sie hätten Licht am Ende eines Tunnels gesehen, wo die liebsten Menschen, die zuvor gestorben waren, sie freudig erwartet hätten. Jens Dreier sieht hier eine Parallele zu Phänomenen bei Migräne mit Aura: „Bei diesem Prozess des Sterbens könnten in einem kurzen Zeitraum im Gehirn gleichzeitig viele Nervenzellen aktiviert werden, sodass „unsere (gespeicherten) Erinnerungen fast gleichzeitig abgerufen werden. Eine Art Lebensbilderschau, ein Lebensrückblick, der im Zeitraffer abläuft.“ Damit bin ich bei der Frage, die den homo sapiens als selbstreflexives Wesen seit jeher beschäftigt: Ist dieser Weg durch den Tunnel der Übergang in eine andere Welt, in ein Leben nach dem Tod? Was kommt nach dem Tod? Eine Frage, deren Beantwortung im Denken und Fühlen der Menschen die Furcht vor der Endlichkeit alles irdischen Lebens zu überwinden in der Lage wäre.

 

Glaubst Du an ein Leben nach dem Tod? Ja:Nein.Mai 2023: 11725 Befragte.

Glaubst Du an ein Leben nach dem Tod? Ja:Nein.Mai 2023: 11725 Befragte.

 

 

„Glaubsr Du an ein Leben nach dem Tod?“

 

Die Frage nach dem Danach beschäftigt – wie „un_endlich“ zeigt, Menschen über alle Kontinente und Kulturen hinweg. Ich erinnere mich diesbezüglich sehr gern an mein Gespräch mit der Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich, das Sie hier auf meiner Website unter den Podcasts anhören können. Sie war schon 93 Jahre alt. Ich fragte sie, ob sie, nicht gläubig, Angst vor dem Tod habe, was sie verneinte. Eine kleine Einschränkung machte sie aber dennoch: „Ich weiß es nicht, wie es sein wird, in dem Moment, wo ich ihn dann erlebe oder nicht erlebe.“ Die Antwort mag eine mindestens unterschwellige Furcht vor dem Sterben ausdrücken, Der Tod ereilte sie zwei Jahre nach diesem Interview. Echauffiert hat sie sich, möglicherweise war es ironisch gemeint, beim Thema Leben nach dem Tod: „Ist doch unerhört, nicht, dass wir sterben müssen und nicht wissen, was nachher passiert. Obwohl alle Völker Religionen entwickelt haben, nur um bloß wissen zu können, was nachher passiert. Und doch wissen sie es nicht. Und werden es nie wissen, natürlich. Ich finde es unerhört.“

 

Sie wissen es nicht und werden es nie erfahren?  

Ich erlebe in „un_endlich“, dass der Glaube an ein wie auch immer geartetes Leben nach dem Tod weltumspannend zu finden ist, über alle Kontinente und Kulturen hinweg. Warum sollten wir Angst haben, wenn wir in eine Welt gehen, in der es keine Diskriminierung und keine Grenzen gibt?“ Das fragt zum Beispiel die Südafrikanerin Bukelwa Sikila in der „Konferenz des Sterbens“, in der zwölf Menschen aus aller Welt, über ihre Arbeit in der Sterbebegleitung berichten. („Akt 2, Szene 2“)  Sikila ist eine Sanagoma; im südlichen Afrika versteht man darunter eine Wahrsagerin und Heilerin, die „vom „Geist der Ahnen besessen ist.“ (Wikipedia)

 

„Sie wissen es nicht und sie werden es nie erfahren.“ Der zitierte Satz von Margarete Mitscherlich gilt auch für jene Wissenschaft, von der man annehmen könnte, dass sie es zuerst herausfinden können müsste: die experimentelle Neurologie. Aber auch der im Buch zu „un_endlich“ interviewte prominente Vertreter dieses Fachs, der schon zitierte Jens Dreier, muss bei der Frage nach der Existenz einer unsterblichen Seele passen: „Die Frage kann ich als Wissenschaftler nicht beantworten. Als Privatperson würde ich sagen: Wenn wir das wissen sollten, würde ich ein paar mehr Hinweise erwarten. Macht es einen zum besseren Menschen, wenn man das glaubt? Oder macht es einen zum besseren Menschen, weil man nicht daran glaubt? Das kann jeder für sich entscheiden. Aus meiner Sicht ist es völlig in Ordnung, diese Frage unbeantwortet zu lassen. Man kann sich dann überraschen lassen, wenn man wirklich stirbt.“ (S.108)

 

Exkurs: Himmel und Hölle als Machtinstrument

 

Religiöse Menschen mögen Jens Dreier antworten, dass es eben etwas Höheres gebe, das sich dem menschlichen Denken entziehe. Ein Argumentationsmuster, mit dem man viel Unbeweisbares behaupten kann. Ich stelle aber auch eine historische Betrachtung daneben. Der Mensch ist wohl das einziges Wesen auf der Welt, das weiß, dass es sterben muss. Margarete Mitscherlich hat sicher recht, wenn sie sagt, dass Menschen Religionen geschaffen haben, um mit dem Versprechen auf ein Leben nach dem Tod den Menschen den Gedanken an die eigene Endlichkeit erträglicher zu machen.

 

Aber richtig ist auch: Religionen haben immer auch andere Funktionen. Sie setzten, um Kriege zu begründen, – denken wir gerade jetzt an den russischen Patriarchen Kyrill – das von Ihnen selbst im moralischen Denken der Menschen verankerte Verbot zu töten nach Belieben der mit ihnen verbundenen irdischen Mächte außer Kraft.

 

Religionen haben leider auch dazu beigetragen, die von ihnen ins moralische Denken der Menschen selbst implementierte Tötungshemmung des Menschen zu überwinden. Wir konnten es in der jüngsten Geschichte bei den Islamisten beobachten, die sich auf die Sure 5, Vers 33 des Korans zu  berufen können glauben, wo nach den Worten von Hamed Abdel Samad das „Mafia-Prinzip verankert ist: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns und darf getötet werden.

 

Schauen wir nach Iran: Mit der Behauptung, das schöne Leben dürfe erst nach dem Tode beginnen, werden die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen begangen. Kann man sich heute wirklich vorstellen, dass Schulkinder durch Einleitung von Gas in Schulen oder öffentlichen Verkehrsmitteln vergiftet werden? Die Herrschaft einer auf eine Soldateska gestützte, demokratisch nicht legitimierte Minderheit war in in der der Geschichte immer nur durch brutale Unterdrückung der Bevölkerung möglich. Bei den greisen Turban-Potentaten soll die Religion die unterdrückerische Macht  legitimieren. Das Streben der Menschen, ein frohes und vor allem freies Leben im Diesseits und nicht erst im Jenseits genießen zu können, wird sich in heutiger Zeit – so die Hoffnung der Menschen im Iran – auch nicht mit grausamster Unterdrückung verhindern lassen..

 

Die Verheißung von Höllenqualen im Jenseits und das Versprechen eines Weiterlebens  nach dem Tod im Paradies bei weltlichem und religiösem Wohlverhalten der Menschen waren und sind also immer auch ein wohlfeiles Instrument der Mächtigen zur Sicherung ihrer Herrschaft. Allerdings können die Glaubenslehrer der monotheistischen Religionen Christentum und Islam einen Widerspruch weder erklären noch auflösen: Warum sollte der von ihnen als überaus gütig beschriebene Gott den Menschen mit Höllenqualen drohen?

 

In eine historische Betrachtung gehört auch, dass Religionen in einer Zeit entstanden sind, als das irdische Leben im Vergleich zur heutigen westlichen Welt höhst beschwerlich und vor allem kurz war. Mit dem Versprechen auf das Paradies nach dem Tod lässt sich das irdische Leid besser ertragen.

„Konferenz des Sterbens“ – Sterbebegleiter aus aller Welt berichten.

 

Die Seele lebt weiter!? Sterbegleiter berichten.

 

Nach diesem historischen Exkurs zurück zur Aktualität des Glaubens an ein – paradiesisches! – Leben nach dem Tod. Dabei möchte ich gern zitieren, wie sich dieser Gedanke aus der Sicht der zwölf Sterbebegleiter darstellt, die in „un_endlich“ über ihre Arbeit berichten. („Akt 2, Szene 2“) Diese „Weltkonferenz des Sterbens“ entstand als Videocall und wird in der Ausstellung auf zwölf Monitoren dargestellt. Ich zitiere hier aus den schriftlichen Berichten im Buch zur Ausstellung, weil ich es zum Teil schwierig finde, den nicht-englisch-sprechenden Menschen per Untertitel zu folgen. Zudem haben die Kuratoren aus von mir nicht  nachvollziehbaren Gründen darauf verzichtet haben, den Besuchern die Herkunft der Beteiligten zu offenbaren.

 

Mike Kelly, Shxw’owhámél-Ältester, Hope, British Columbia, Kanada

Er wisse, sagt er, „dass die Sterbenden uns nicht wirklich verlassen. Wir können ihre Geister nicht sehen, aber sie sind bei uns. Ich habe schon erlebt, dass ein Mensch, der schon ein paar Stunden tot war, meine Hand gedrückt hat, als ich mich verabschiedet habe. Das ist schwer in Worte zu fassen.“
Bei allem für mich selbstverständlichem Respekt vor einer anderen als meiner Kultur: Bei meiner Trauerbewältigung hat mir sehr geholfen, mich davon gerade zu befreien, dass der Geist der Verstorbenen ständig über mir schwebt und alles beobachtet und bewertet, was ich gerade tue oder tun muss. Aber sicher meint er mit dem Begriff „Geist“ die lebendig bleibenden, guten Erinnerungen an die Zeit mit den Verstorbenen, also das, was immer bleibt im Denken und Fühlen der Weiterlebenden.

 

Hadley Vlahos, Hospizkrankenpflegerin New Orleans. USA

Den Pflegerinnen und Pflegern, den Ärztinnen und Ärzten, allen, die auf Palliativstationen oder in Hospizen tagtäglich ganz nah mit sterbenden Menschen zu tun haben, die manchmal mehrmals am Tag mit dem Tod eines manchmal gar liebgewonnenen Patienten, Gastes umgehen müssen, gilt mein allerhöchster Respekt!.

Hadley Vlahos berichtet zunächst, wie friedlich sie das Sterben von Menschen erlebt und empfindet dann, dass die Seele der Verstorbenen den Raum verlässt, weshalb übrigens in manchen Kulturen nach Eintritt des Todes die Fenster geöffnet werden, um dies der Seele zu ermöglichen. Hadley Vlahos: „Kurz vor dem Tod schlafen Patienten die meiste Zeit und sind immer nur ein paar Minuten wach. Außerdem hören sie auf zu essen. Ihre Extremitäten werden kühl und färben sich leicht blau. Schließlich lassen die Körperfunktionen nach, Herzfrequenz und Puls sinken, die Atmung verändert sich. Dadurch, dass die Pausen zwischen den Atemzügen sehr lang werden, bemerke ich oft nicht sofort, dass die Atmung ganz ausgesetzt hat und der Mensch gestorben ist. Aber meistens spüre ich, wenn sie nicht mehr am Leben sind und ihre Seele den Körper verlassen hat. Sie sind nicht mehr im Raum.“

Thich Thiên Nguyên, Buddhistischer Mönch, Vietnam

Bei ihm heißt das Leben nach dem Tod „die andere Seite“: Meine Verantwortung als Mönch und Lehrer ist es, ihnen (den Sterbenden, ika) dabei zu helfen, nicht an das Leid der Familienangehörigen oder an die Sorge um ihr Vermächtnis zu denken, sondern die Vergänglichkeit des Lebens zu akzeptieren. Nur dann können sie in Frieden sterben. Im Buddhismus sehen wir Geburt und Tod nur als eine Zustandsveränderung des Lebens. Der Tod spielt für Mönche keine Rolle, Wenn die Sterbenden die Augen schließen, begeben sie sich auf die andere Seite.“

 

 Myriam Rios, Spirituelle Sterbebegleitung im Hospiz Guatemala-Stadt,

Die Gleichwertigkeit von Geburt und Tod als die wichtigsten Momente im Leben, betont auch diese Sterbebegleiterin aus Südamerika, Klar: Ohne Geburt kein Tod. Eigentlich banal. Myriam Rios weist aber vor allem auf die Unsicherheit von Menschen im Umgang mit Sterbenden hin: “Viele Menschen haben Angst davor, sterbende Angehörige zu Hause zu pflegen, weil sie nicht wissen, was sie tun sollen, wenn jemand im Starben liegt. Dabei ist es ein Privileg, dabei zu sein, wenn jemand stirbt und ihm in diesem besonderen Moment die Hand zu halten. (Ja, man darf Sterbende anfassen! ika) Genauso, wie es ein Privileg ist, bei einer Geburt anwesend zu sein. Geburt und Tod sind die beiden wichtigsten Momente im Leben“, wenn man sie bei anderen Menschen miterleben darf, so verstehe ich das. Ich möchte aus eigenem Erleben hinzufügen, dass für viele Menschen die so genannte Finalpflege zu Hause schlicht nicht zu bewältigen ist. Es ist keine Schande, sich das einzugestehen und einen Platz im Hospiz zu suchen. Ich weiß, wovon ich rede: Die häusliche Pflege meiner zweiten Frau bis zum Tod erforderte einen unerhört hohen Kraftaufwand!

Gewänder für die Toten aus allen Kulturen.

Gewänder für die Toten aus allen Kulturen.

 
Rachel Ettun, Spirituelle Sterbebegleiterin, Jerusalem.

Die Jüdin will die Angst vor der eigenen Endlichkeit durch das moralisch richtige Verhalten im Verlauf des Lebens mildern: „Die Angst vor dem Tod ist etwas ganz Natürliches. Sie gehört zu dem Schutzmechanismus, der uns hilft, zu überleben. Es ist wichtig, dieser Angst Raum zu geben. Sie ist ein Teil von uns. Wir können uns mit ihr anfreunden. Die Ängste sind vielfältig, und wir können uns mit ihnen auseinandersetzen, sodass sie nicht unser Leben bestimmen, sondern wir sie unter Kontrolle halten. Wir können uns auf unseren Tod vorbereiten, indem wir authentisch leben und uns damit konfrontieren, dass es Krankheit, Alter und Tod überall auf der Welt gibt und dass wir jederzeit sterben können, Auf diese Weise leben wir nicht in einem ständigen Kampf, auch wenn das unserem Überlebensinstinkt widerstrebt, der sehr stark ist. Aber unser Bewusstsein kann es lernen. Wenn wir lernen zu lieben, zu vergeben und mit unseren Werten verbunden zu sein, können wir am Lebensende die Tatsache annehmen, dass es etwas Höheres als uns gibt.“ Rachel Ettun sagt übrigens dasselbe wie der Palliativmediziner Prof. Gian Domenico Borasio in meinem Interview, das Sie auf meiner Seite „Hospiz“ hören können: „Die Menschen sterben so, wie sie gelebt haben.“ Borasio erzählt von einer Opernsängerin, deren Tod eine große Oper gewesen sei.

Esther Hirsch, Kantorin in der Berliner Sukkat Schalom Synagoge, hatte schon eingangs der Ausstellung die nächste Generation in den Vordergrund gerückt. Sie und ihre Erinnerung an uns wird hier bleiben. {…} Deshalb müssen wir uns um unsere Kinder und Mitmenschen kümmern. Sie werden die Erinnerung an uns aufrecht erhalten. Auch das ist eine Form des ewigen Lebens.“

 

Patrice Dwyer, Death Doula, Kingston, Jamaika.

Eine Doula ist der griechischen Herkunft des Begriffs nach eine „Dienerin der Frau“, die – selbst auf natürliche Weise Mutter geworden – die Schwangerschaft von Frauen begleitet. Wie ich hier lerne, gibt es aber eben auch die „Death Doula“, also die Sterbebegleiterin. Sie hat einen Rat an alle, die in der Sterbephase, eines von ihnen begleitete Menschen oft nicht wissen, wie sie sich verabschieden sollen; „Ich habe ein kleines Ritual. Jedes Mal, wenn ich einen Menschen verlasse, den ich betreue – vor allem in einer Zeit, in der ich irgendwie spüre, dass ich die Person vielleicht nicht mehr lebend antreffen werde, weil sie ihre letzte große Reise antritt -, flüstere ich: ‚Walk good.’ Das sagen wir hier auf Jamaika, wenn wir jemandem alles Gute für jene Reise wünschen.“

Ich habe einmal in einer solchen Situation, in der man scheinbar nicht die richtigen Worte zum Abschied findet, eben jene Schwierigkeit zum Thema gemacht: „Ehrlich gesagt, ich weiß heute nicht, mit welchen Worten ich mich von Ihnen verabschieden soll. Deshalb sage ich einfach nur ‚Tschüss!’“ Die Antwort war „Tschüss!“ Lesen Sie hier im Blog „Tschüss – eine Sterbebegleitung.“

 

Noreen Chan, Ärztin in der Palliativpflege, Singapur

Frau Chan soll in diesem Beitrag das Schlusswort haben, weil sie gerade jenen Menschen Mut zuspricht, die sterbende Menschen begleiten (müssen): Angehörigen, die schier nicht zu ertragen können glauben, was sie in der finalen Sterbephase eines geliebten Menschen erleben, sagt die  formuliert aber auch die Motivation professioneller wie ehrenamtlicher   Sterbebegleiter formulierend: „Es ist ein Privileg, Menschen, die im Sterben liegen, begleiten zu können, und es ist eine noch größere Ehre, bei ihrem letzten Atemzug dabei zu sein. Patienten und Familien gewähren uns tiefe und intime Einsicht in ihr Leben. Wir sehen sie in ihrer unverfälschten und verletzlichen, aber auch in ihrer stärksten Verfassung. Ich begreife das als einen Einblick in die menschliche Natur, der den meisten von uns nie zuteilwird. Ein seltenes und wunderbares Geschenk.“ So sehe ich meine Arbeit auch.

Das Buch zur Ausstellung. Foto: Seemann Verlag

Alle Zitate von Sterbebegleitern aus dem Buch zur „un_endlich“-Ausstellung, Seiten 75 bis 98.

Alle Fotos, sofern nicht anders verzeichnet:  Ingo Kahle. Titelfoto: Laura Schierholz.