Das Symbol der Deutschen Einheit – Brandenburger Tor in Berlin beim Festival of Light. Foto: Boro

 

9. November 1989 – Meine Arbeit für SFB und ARD

 

In den fast 36 Jahren bei SFB und rbb, davon 31 Jahre in Zeitfunk und Inforadio, habe ich einiges erlebt. Sieben Stunden „Echo am Morgen“-Moderation nach Beginn des zweiten Golfkrieges 1990 zum Beispiel. Aber die Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 wird als die (berufliche) „Nacht der Nächte“ in meiner lebhaften Erinnerung bleiben.

Mein Dienst im Zeitfunk als Tagesredakteur hatte um 10.00 Uhr begonnen. Um 18.00 Uhr, so hatten wir es uns in jenen Tagen angewöhnt, verfolgten wir jeweils die live im Fernsehen der DDR übertragenen Pressekonferenzen des SED-Politbüros und schnitten sie mit. So auch an jenem Abend, an dem Günter Schabowski einen der berühmtesten Sätze – eher das berühmteste Gestotter – der jüngeren deutschen Geschichte von sich gab. „Ausreise über Grenzübergänge der DDR … Das gilt meines Wissens sofort“. Ich bat anwesende Kollegen. „Hört Euch das mal an, wisst Ihr, was das heißt? (Verzeiht, liebe ehemalige DDR-Bürger) Kommen die jetzt alle?“ Der O-Ton wurde wenig später in einer Nachrichten-mit-O-Ton- Einblendung im s-f-beat gesendet.

Mich noch heute überraschend war, dass Jochen Sprentzel schon in der Abendschau Walter Momper, den damaligen Regierenden Bürgermeister von West-Berlin, zu Gast hatte. Man habe mit so etwas gerechnet, erzählte Momper mir später. Es habe Alarmpläne gegeben. Man habe die DDR-Behörden um ein Signal gebeten gehabt, damit im Fall einer Maueröffnung nicht der West-Berliner BVG-Verkehr zusammenbreche. Deshalb habe man vorbereitet sein wollen. Er sei bei einem Empfang im Springer-Hochhaus gewesen und dann sofort in die Abendschau geeilt. Jedenfalls: Ich rannte rüber zum Fernsehen und fing ihn ab, als er aus dem Abendschau-Studio kam, um ihn zum Hörfunk zu holen. „Ich hab‘ jetzt keine Zeit!“. Meine Stimme muss eindringlich genug gewesen sein, als ich sagte: „Herr Momper, in dieser historischen Stunde müssen Sie jetzt unbedingt in den Hörfunk kommen und die Menschen informieren!“ Er kam, Volker Wieprecht interviewte ihn im „s-f-beat“ und durfte dabei sogar das Format brechen, wie man heute sagt, über die – Zeitzeichen! – Nachrichten- um-acht-Zeit hinaus mit ihm reden.

Meine nächste Erinnerung ist dann das Gesicht des Ingenieurs vom Dienst. Heute können wir beide wegen des für den SFB erfolgreichen Ausgangs dieser Nacht darüber lächeln, weshalb ich es auch erzählen darf. „Ich brauche sofort alle verfügbaren Ü-Wagen. Wirklich sofort!“ Ein Blick, eine Frage: „Wissen Sie, wie spät es ist…?“ Normal, wenn ein aufgeregter Redakteur mit so einem Ansinnen kommt. Aber: „Herr X, Sie erinnern sich sicher noch, wie es war, als die Mauer gebaut wurde. Das war 1961. Jetzt fällt sie. Deshalb brauchen wir sofort alle verfügbaren Ü-Wagen, sonst weiß ich nicht, was mit Ihnen hinterher passiert!“ Zeitfunk-Chef Ernst Dohlus, wie viele andere ebenfalls aus dem Feierabend ins Funkhaus gerufen, musste derartige Drohungen („Ich sorge dafür, dass Sie fliegen, wenn Sie nicht…“) auch gegen den Chef der Ü-Stelle vorbringen. Als ihm der Ernst der historischen Stunde dann doch klargeworden war, setzte er sich selbst ans Steuer eines Ü-Wagens. Der Hinweis des IvD war später ebenfalls vergessen: „Die Ü-Wagen müssen bis 23.00 Uhr im Hof sein,

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die Besatzungen dürfen nicht länger, müssen morgen wieder…“ Die Ü-Wagen blieben fast die ganze Nacht draußen. Und wir alle haben uns bewährt.

Frühredakteur Axel Barckhausen wollte unbedingt mit dem Ü-Wagen raus, Ernst Dohlus übernahm die Frühredaktion für das „Echo am Morgen“ sowie die Koordination in dieser Nacht und schrieb darüber im ARD-Jahrbuch 1990: „Zuerst sind drei Reporter unterwegs, später scheint der gesamte SFB auf den Beinen zu sein.“ So war es.

Gott sei Dank war Donnerstag. Jürgen Jürgens ging um 22.00 Uhr mit dem „ARD- Nachtrock“ auf Sendung. Unsere Reporter konnten sich so nicht nur für SFB2 melden, sondern gleich die ganze ARD versorgen. Ich sehe mich noch im ZÜTR stehen, um für die Übertragung der kurzfristig angesetzten Bundestagssitzung in Bonn zu sorgen. Den Nachtrock verlängerten wir einfach von Stunde zu Stunde per Ankündigung on-air, hoffend, dass die Sender dabei bleiben würden. Unmöglich, sie alle anzurufen in jener Nacht. Der NDR jedoch machte eine eigene Sendung, für die unsere Reporter von unseren Ü-Wagen aus arbeiteten. Wir sendeten im „ARD-Nachtrock“ von 21.00 bis 05.00 Uhr 40 Beiträge.

Volker Wieprecht fuhr nach seiner Moderation im s-f-beat auf Geheiß von Ernst Dohlus mit dem Reporter-Golf – wie sich gegen 21 Uhr herausstellte – vergeblich zur Bernauer Straße. „Hier ist nix.“ Daraufhin wurde er zur Bornholmer Straße beordert, um Kassetten mit Reportagen der Kolleginnen und Kollegen ins Funkhaus zu holen. „So wurde eine große Reporterkarriere verhindert 😉 „, schrieb er mir gerade. Ja klar, in jener Nacht wollte jeder gern Reporter sein. Die „Wahnsinn, Wahnsinn“-Rufe, typisch für diese Nacht, teils sogar der Klang der Stimmen der Interviewten, besonders der Frauen, ist mir noch immer in Erinnerung. Menschen weinten vor Freude. Und noch heute bekomme ich feuchte Augen, wenn ich die Stimmen höre. Wie Ernst Dohlus im ARD-Jahrbuch erinnere ich mich auch an jene Frau, die dem Reporter Luten Leinhos, heute ZDF, sagte: „Ich bin so glücklich. Ich habe meine Eltern das erste Mal seit langem gesehen. Wir waren zum Biertrinken, wollten mit der Taxe in eine Disco. Da sagt der Taxifahrer: Das geht nicht, ich will rüber. Da haben wir die Kleene geholt und sind los. Die haben uns mit einem Lächeln durchgelassen, nur mit Personalausweis.“ Die anschließende Frage beantwortete der Reporter mit einem „Na klar!“: „Kann ich Dir ein Küßchen geben?“

Um 2 Uhr 50 interviewt Axel Barckhausen an der Bornholmer Straße den Schriftsteller Stefan Heym, der in den Monaten, Wochen und Tagen zuvor eine so wichtige Rolle in der DDR gespielt hatte. Denken wir an die berühmte Demo am 4. November auf dem Alexanderplatz. „Meine Frau und ich haben schon im Bett gelegen und dann haben wir uns gesagt: Mensch, das ist doch ein historischer Moment, wie man ihn nur einmal im Leben hat. Ein neues Kapitel in der Geschichte dieser Stadt, dieses Landes der DDR und, wie ich hoffe, des Sozialismus.“ Frage: Wer hat es geschrieben, dieses Kapitel? „Das Kapitel hat geschrieben das Volk. Das ist eben das großartige, was eben ganz neu ist.“

Nun gut, das Kapitel Sozialismus war dann zu Ende, ob von vielen DDR-Intellektuellen erhofft oder nicht. Aber dieses Gefühl, einen solch einmaligen Moment an dem Platz erlebt zu haben, an den einen das Leben gerade gestellt hatte, und sich dabei bewährt zu haben,

erfüllt mich nach wie vor mit Stolz. Ja klar, ich wäre auch gern draußen gewesen. Aber das trübt meine Erinnerung nicht, weil ich denke, ich habe für den SFB und die ARD etwas Wichtiges geleistet. Ich habe schließlich, immer müder werdend, einsam in einem Schneideraum einen „Kuchen“ von mehr als einer halben Stunde mit Reportagen und O- Ton-Collagen zusammengeschnitten, der morgens gleich an die ARD überspielt wurde.

Als ich nach 20 Stunden Dienst morgens nach Hause fuhr, hörte ich im „Echo am Morgen“ den Moderator Carsten Mierke folgende hoch-offizielle Verkehrsdurchsage der Berliner Polizei weitergeben: „6 Uhr 30, SFB2-Verkehrsservice. An den innerstädtischen Übergängen nach Ost-Berlin keine Behinderungen mehr durch Besucher aus Ost-Berlin.“ Da habe ich fast ins Lenkrad gebissen.

Copyright: Ingo Kahle, 2009

Siehe dazu auch; „Sofort, unverzüglich!“ Von Uwe Soukup in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 04.02.2018