Ingo Kahle
Warum sich Journalisten mit einer vermeintlich guten Sache gemein machen anstatt die Wirklichkeit darzustellen. Wider die „Verantwortungsverschwörung“ im Journalismus.
Ich musste schnell sein. Sehr schnell. Rund 3600 Kurzinterviews in zehn Jahren als Moderator im Früh- und Tagesprogramm von RBB-Inforadio waren oft, aber beileibe nicht immer ein Ergebnis akribischer Vorbereitung. Mit der 37 Minuten langen Sendung „Zwölfzweiundzwanzig – Zu Gast bei Ingo Kahle“ konnte ich dann zeigen, was im Journalismus möglich ist, wenn man Zeit hat. Ich war alleiniger Redakteur und Moderator, hatte vier Tage für Planung und Vorbereitung uvm., heutzutage ein Privileg! Es waren übrigens auch allzu oft sehr lange Tage. „Zwölfzweiundzwanzig“ wurde über die zehn Jahre und 381 Ausgaben zur erfolgreichsten Einzelsendung des RBB-Inforadios, zur „besten Interviewsendung Deutschlands“, wie die „Neue Osnabrücker Zeitung“ befand. Tauge ich im Journalismus also etwa als Vorbild für die Ergebnisse von Gründlichkeit und Unerschrockenheit? Erstens: Eine Mücke soll sich nicht zum Elefanten machen. Zweitens: Wer von „Krise des Journalismus“ redet, muss das Ganze betrachten: Was beeinflusst, was prägt Journalismus heute? Das gerade wieder von Kurt Beck kritisierte Verlangen nach „schneller, lauter, schriller“, dem man mit einem Appell zur Gründlichkeit begegnen könnte, ist nur ein Phänomen, nicht die Ursache dieser Krise.
Das Ökonomische
Sicher, im Pressewesen gilt: „Macht bleibt dort, wo das Geld sitzt.“ (Julia Cagé; Rettet die Medien, München 2016) Die immer komplexere Gesellschaft brauche Journalisten, so die Französin, beschäftige aber immer weniger. Die meisten Zeitungen steckten ihre ohnehin schwindenden Mittel ins Online-Geschäft. Ein immer größerer Teil der Journalisten arbeite ganz oder zusätzlich für die Online-Ausgaben der Zeitungen. Dabei komme es selbst ökonomisch nicht darauf an, wer mit „Copy-and-Paste“ Agenturmeldungen am schnellsten online stelle, genutzt von „Millionen eiligen Internetnutzern”, sondern ob das Onlineangebot eine Ergänzung zu ansonsten hochwertigen Nachrichteninhalten in den abonnierten und verkauften Ausgaben ist. Cagé schlägt eine ökonomische Selbstorganisation der Presse vor, welche „die Vorzüge von Stiftung und Aktiengesellschaft vereint“. Jedoch: Zeitigt eine andere ökonomische Organisation der Medien per se einen anderen Journalismus? Und wer definiert das Ideal?
Talking-Points
Es kommt darauf an zu erkennen, wer öffentliche Meinung wie steuert und wie sich Journalisten verstehen. Kurt Beck, Ex-SPD-Chef, Ex-Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, wurde von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gefragt, warum Journalisten „nicht auch Einfluss auf die Politik ausüben sollten“. Beck: „Mit Verlaub: Ihr seid dazu demokratisch nicht legitimiert.“ Akteur statt Beobachter? Schönen Gruß besonders an die „Leitmedien“!
Politiker sollen aber auch nicht jammern, versuchen sie doch, Öffentlichkeit professioneller denn je zu steuern. Es klappt nur nicht immer. Beispiel: Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“ war vielleicht nur eine spontane Äußerung auf jener Pressekonferenz im Herbst 2015. Es ist aber auch ein „Talking-Point“ und Angela Merkel nutzt sie meisterhaft. Das sind von Profis entwickelte psychologisch wirksame Formulierungen, deren Aufgabe es ist, „Menschen fühlen zu lassen, dass es >gut< ist, ihnen zu folgen.“ (Dushan Wegner, Talking Points, Frankfurt 2015) Mit „Talking Points“ werden also Sprachformeln öffentlicher Diskurse, werden Haltungen, Sichtweisen, geprägt – auch, weil Journalisten sich allzu sehr an ihnen entlanghangeln anstatt die komplexen Probleme wirklich zu durchdringen. Selbst Gesetze bekommen neuerdings positiv konnotierte Titel, die ein Signal setzen sollen. Das „Gute-Kita-Gesetz“ der SPD-Bundesfamilienministerin Franziska Giffey oder die „Respekt-Rente“ des derselben Partei angehörenden Bundesarbeitsministers Hubertus Heil. Dieser Begriff für ein Gesetzesvorhaben und dessen Alternativvorschläge hat ohnehin schon eine sprachliche Geschichte hinter sich; Grundrente, Lebensleistungsrente, solidarische Lebensleistungsrente, grüne Garantierente, Basisrente.
„Wir schaffen das“, so sagt der Kommunikationswissenschaftler Wegner, sei eine klassische „Applauszeile“, ein Angebot, das darauf ziele, dem Sprechenden zu folgen. Beim „Gute-Kita-Gesetz“ und der „Respekt-Rente“ ist die „Applauszeile“, der Appel zur Zustimmung, ja sogar die Abwehr von Kritik schon inbegriffen. Wer hat schon etwas gegen gute Kitas oder gegen Respekt vor der Lebensleistung von Menschen? „Talking-Points“ funktionieren aber nicht automatisch, sie können erst recht ungewollte gesellschaftliche Folgen zeitigen. „Wir-schaffen-das“ provozierte die genau gegenteilige Haltung in großen Teilen der Bevölkerung. Man muss leider sogar sagen, diese ostentative Haltung „Ich weiß gar nicht, was wir hätten anders machen sollen“, wie Angela Merkel es nah der Wahl ausdrückte, die aber in dem zitierten „Schaffen“-Satz schon zum Ausdruck kam, hatdazu beigetragen, dass eine Partei rechts von CDU und CSU in den Deutschen Bundestag kam. Ich mag zwar ganz und gar nicht, wenn jemand öffentich bekundet, er hasse einen anderen Menschen, auch nicht, wenn Karl Lagerfeld äußert, er hasse und verabscheue die deutsche Bundeskanzlerin. Aber der Modezar hat ja recht, wenn er sagte, Merkel habe zwar aus historischen Gründen besonders moralisch handeln wollen, als sie viel zu viele Flüchtlinge, Muslime zumal, ins Land gelassen habe. Das Paradoxe daran sei jedoch, dass Merkel das Böse an die Macht befördere, während sie es reparieren wolle, womit er kritisierte, dass nunmehr „dutzende Neonazis“ im Parlament säßen.
„Verantwortungsverschwörung“?
Nach der Analyse von 34.000 Pressebeiträgen zum Flüchtlingsthema stellt der emeritierte Leipziger Professor Michael Haller, jetzt Hamburg Media-School, fest: 82 Prozent aller Beiträge zur Flüchtlingsthematik seien positiv konnotiert gewesen (Der Scherpunkt lag auf „Willkommenskultur“), 12 Prozent rein berichtend, 6 Prozent hätten die Flüchtlingspolitik problematisiert. Die Berichterstattung, so Hallers These, sei der sich ändernden Wahrnehmung in der Bevölkerung hinterhergelaufen.
Uwe Krüger, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leipziger Journalistik-Institut, spricht von einer „Verantwortungsverschwörung“ von Journalisten und den politischen Spitzen des Landes, „über die Probleme des Flüchtlingsandrangs nicht offen zu debattieren.“ (Uwe Krüger: Mainstream, München 2016) Er bezeichnet mit diesem Begriff eine „Falle“: Es habe dabei „vielleicht gar keiner persönlichen Absprachen im Hintergrund bedurft“. (Obwohl es sie, wie Insider berichten, systematisch und mit den Spitzen der deutschen Medien gegeben hat! ika) Diese „Verschwörung“ habe „aufgrund gemeinsamer Einstellungen und Werte funktioniert, die aber dennoch als politisch-mediale Schweigespirale wirkte.“ Nach der erwähnten Hamburger Untersuchung ist die Zahl der Berichte zur „Willkommenskultur“ im Herbst 2015 „regelrecht explodiert“.
Uwe Krüger stellt beim Thema Flüchtlingspolitik jedenfalls fest, „dass die meisten deutschen Journalisten mit ihrer Berichterstattung und Kommentierung ein Einvernehmen der Bevölkerung mit Merkels Politik der offenen Grenzen herzustellen trachteten“, was nach Umfragen misslungen ist. Dafür gingen m.E. vielfach journalistische Grundregeln über Bord, wie die Trennung von Nachricht, Bericht und Kommentar. Als rbb-Intendantin hat Dagmar Reim in ihrer Amtszeit die Mahnung von Hans-Joachim Friedrichs ausdrücklich abgelehnt: Ein Journalist solle sich im Bericht nicht mit einer Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten, hatte der verstorbene Moderator der „tagesthemen“ gefordert. Reim verwies stattdessen als Richtschnur auf das Gebot der Völkerverständigung im rbb-Staatsvertrag. Eine klare Ansage auf einer redakteursversammlung, derer es übrigens gar nicht bedurft hätte. Zu dieser Versammlung der festangestellten und festen Freien Mitarbeiter im Oktober 2015, auf der diese ihre Worte fielen, hatte der Redakteursausschuss des Senders und nicht die Intendantin, den Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Georg Ruhrmann, (IfKW, Universität Jena) eingeladen. Sein Rat: „Sprechen Sie doch nicht von „Ängsten“ der Bevölkerung, sondern von „Bedenken“, nicht von „Flüchtlingsstrom“, sondern von „Flüchtlingszuzug“. Gerade dieser Begriff, der „Zuzug“, bei dessen Lektüre ich mich immer fragte, wo denn die vielen Möbelwagen geblieben sind, hat sich in der gesamten deutschen Medienlandschaft wundersam ausgebreitet.
Uwe Krüger rät hingegen zurecht: Es gehöre nicht zu den Aufgaben von Journalisten, „das Publikum vor kognitiver Dissonanz zu bewahren, indem sie gesellschaftliche Widersprüche verschleiern oder marginalisieren.“
Haltung statt Recherche
Kollegenschelte wie: „Meinungsstark, aber keine Ahnung von Recherche“, Klagen über reflexartige mediale Reaktionsmuster, über das Denken in tradierten, immer gleichen Mustern statt mit Offenheit und Neugier vor allem Faktenorientierung sind in der Medienbranche nicht mehrheitsfähig. Kolleginnen und Kollegen, die sie dennoch vortragen, gelten allzu schnell als AfD-verdächtig. Beispiel: Der Medienrummel nach der – wie sich herausstellte – falschen, über die „sozialen Netzwerke“ verbreiteten Meldung, am Berliner LaGeSo habe es einen Toten gegeben. Da wurde berichtet, interviewt, getwittert und kommentiert – ohne dass es eine Leiche gab, ohne das offizielle Ermittlungsergebnis abzuwarten. Es war eine Berichterstattung nach dem Motto: Es hätte ja möglich sein können (sinngemäß Claus Kleber), sowie im Grunde dem Ziel des Falschmelders aus der Berliner Flüchtlingshilfe-Intiative „Moabit hilft“ folgend, einen finalen Beleg zu schaffen für einen in überaus vielen Berichten – zurecht oder nicht – beklagten „humanitären Skandal“.
Anderes Beispiel aus jüngster Zeit: Mehrere Radiowellen des rbb strahlen einen gewissermaßen „investigativ“ daherkommenden Beitrag über eine Initiative „Bürger für Asyl“ aus, deren Mitglieder abgelehnte Asylbewerber verstecken, um deren Abschiebung zu verhindern. „Der Flüchtling möchte seinen Namen nicht im Radio genannt wissen“ usw. Die Mitglieder dieser Imnitiative begehen Beihilfe zur illegalen Einreise bzw. zum illegalen Aufenthalt. Strafbar nach dem Aufenthaltsgesetz. Die so genannten „Helfer-Fälle“ werden aber in der Praxis nicht strafrechtlich verfolgt. Deshalb wird in der Regel auch nicht gegen Kirchenasyl gewährende Pfarre ermittelt. Anders jedoch, wenn sich herausstellt, ein Bürger habe vom Flüchtling Geld angenommen. welchen Geld angenommen. Wenn sich das bei ener Hausdurchsuchung beweisen lässt, gelten diese „Bürger für Asyl“ als Schleuser.
Diese Informationen fehlten in dem der Initiative gegenüber in ausgesprochenen positiver Grundhaltung daherkommenden Bericht. Im Vordergrund standen Flüchtlinge, („In Italien leben die Leute auf der Straße, dorthin will ich nicht zurück“) und die sie versteckenden Bürgerinnen und Bürger und deren Motivation. Im „Inforadio“ des rbb befragte man, nachdem der Beitrag des jungen Kollegen von „radioEins“ morgens gelaufen war, im Laufe des Vormittags wenigstens noch einen Rechtsprofessor. Aber das ist es, was ich meine: Der Beitrag selbst hatte offenbar die ausdrückliche Billigung der für die jeweiligen Wellen zuständigen Programmverantwortlichen gefunden. Er entsprach also der ausgesprochenen oder auch unausgesprochenen Linie des Hauses – und der Haltung sehr vieler Redakteurinnen und Redakteure des rbb. Dem Vernehmen nach hat es innerredaktionell durchaus kritische Diskussionen über den Beitrag gegeben, wie ich gern hinzufüge.
Das menschliche Streben nach Anerkennung
Nun, es ist zutiefst menschlich: Die Meute läuft gern in eine Richtung. Einen Komment aus tradierten Denkmustern gibt es in vielen Redaktionen. Gegen ihn zu verstoßen, ist anstrengend. Auch die Rolle des Elitären, der sich über Dünnbrettbohrerei echauffiert, ist nicht vergnügungssteuerpflichtig. Viele Journalisten seien Akademiker und zudem, so Uwe Krüger, in einem „gut abgesicherten Angestellten- oder Beamtenhaushalt groß geworden“, mit entsprechendem Habitus. Bei den Jüngeren sehe ich mich durch die Jugend-Studie des Sinus-Institutes bestätigt: Der Begriff „Mainstream“ sei kein Schimpfwort mehr, sondern vielmehr „ein Schlüsselbegriff“ in Selbstverständnis und Selbstbeschreibung Jugendlicher. „Neo-Konventionalismus“ nennen das die Sinus-Wissenschaftler.
Ich möchte das mit folgenden Thesen unterstreichen: Die Shell-Jugendstudien belegen, dass es noch nie ein so gutes Verhältnis zwischen den Eltern einer Generation und ihren Kindern gegeben hat. Meine Generation, ich bin Jahrgang 1952, erst recht die 68er, von denen nicht wenige als Kinder noch Krieg erlebt hatten, mussten sich gegen ihre Eltern abgrenzen, vor allem gegen die Väter. Das mussten unsere Kinder nicht. Sie brauchten nur die Meinung ihrer Eltern übernehmen. Diese leiteten ja aus der Abgrenzung gegenüber ihren Eltern eine Selbsteinschätzung ab, die offenbar von dem festen Überzeugung geprägt war, sie hätten die Moral gepachtet. Wie einfach ist es da für deren Kinder, das zutiefst menschliche Bedürfnis zu befriedigen, auf der moralisch richtigen Seite stehen zu wollen.
Francis Fukuyama greift in seinem neuen Buch „Identität“ auf Plato zurück. In seinen früheren Publikationen zum „Ende der Geschichte“, so Fukuyama, habe er bereits darauf hingewiesen, „dass weder Nationalismus noch Religionen demnächst als Kräfte der Weltpolitik verschwinden würden, und zwar deshalb, „weil die zeitgenössischen liberalen Demokratien das Problem des Thymos noch nicht vollends gelöst hätten. Thymos ist der Teil der Seele, der sich nach Anerkennung seiner Würde sehnt; Isothymia’ ist das Bedürfnis, anderen gegenüber als gleichwertig zu gelten, während *Megalothymia’ den Wunsch darstellt, von anderen als überlegen betrachtet zu werden. {…} Ganze Länder können sich missachtet fühlen, was zuweilen einen aggressiven Nationalismus entfesselt, ebenso wie Anhänger einer Religion, die meinen, dass ihr Glaube geschmäht wird.“ Es braucht nicht viel Phantasie, um Fukuyamas Voraussage zu teilen; Isothymia, die Forderung nach „gleichheitlicher Anerkennung“ werde auch weiterhin hervorgerufen werden, könne jedoch „wahrscheinlich nie ganz erfüllt werden“. (Francis Fukuyama, Identität, Hamburg 2019, 13f.) Angewandt auf einen Öffentlichkeit herstellenden Bereich der Gesellschaft: Wie einfach ist es, Anerkennung durch Konformität zu bekommen. Womit wir wieder bei Uwe Krügers Vorwurf des Neo-Konventionalismus“ wären.
Nicht wissen und nicht wissen wollen?
Nach den Erfahrungen des Berliner Politologen Prof. Klaus Schroeder über den Kenntnisstand seiner Studenten liest sich „Haltung statt Recherche“ als „Meinungsstark und kenntnisarm.“ (FAZ vom 03.05.2018)
Schroeder nennt aus der Befragung seiner Seminarteilnehmer ein Beispiel, er erforscht ja den SED-Staat: „Auf Basis des mangelhaften Wissens konstruierte sich eine breite Mehrheit der Studenten eine DDR, wie sie nie existierte.“ Zwar hege die überwiegende Mehrheit der befragten Seminarteilnehmer keine Sympathien für die DDR, reduzierte sie jedoch auf „Stasi, Mauer und (vermeintliche) soziale Gerechtigkeit“ und blendete so den Diktaturcharakter aus. „Die DDR erschien ihnen als Stasi-Staat und nicht als SED-Staat.“
Gleiches Bild beim Thema Sozialstaat, der nach Ansicht seiner Studentinnen und Studenten finanziell nicht gut ausgestattet sei, weshalb ihm die Aufgabe, sozial abzusichern, immer weniger gelinge, da er ja schon seit Jahren abgebaut werde. Schroeder zusammenfassend: „Der Sozialstaat ist wichtig und sollte stark ausgebaut werden; sein derzeitiger Zustand in Zeiten des Neoliberalismus sei aber erbarmungswürdig.“ Die wenigsten hätten die Höhe der Sozialausgaben in Deutschland auch nur annähern richtigen dreistelligen Milliardenbetrag geschätzt, nämlich nach Angaben des Bundesarbeitsministeriums aus dem Sommer 2018 auf den Rekordwert von 995,5 Milliarden Euro( im Jahr 2017, plus 3,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die Sozialleistungsquote wurde auf einen weit geringeren als den tatsächlichen Wert geschätzt, der bei 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes liegt. Die „größte Überraschung“ war für Schroeder, dass seine Seminarteilnehmer nicht wussten, dass die Sozialausgaben nicht nur von den versicherten Arbeitnehmern und „dem Staat“ finanziert würden, sondern auch von Arbeitgebern durch deren Beiträge zur Sozialversicherung der Arbeitnehmer und den von Arbeitgebern gezahlten Steuern.
Im September 2018 fragte der Kollege Georg Meck in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung die Siemens-Personalchefin Janina Kugel, ob „wir“ denn nicht irgendwann zu alt für bestimmte Jobs seien. „Die Jugend hat zweifellos Vorteile“, meinte Meck. Die Antwort sJanina Kugels sprach auch manchen erfahrenen Journalisten (die ich jedenfalls kenne) aus dem Herzen, wenn sie sich auch gar nicht ausdrücklich auf unsere Profession bezog: „Nicht das Alter ist wichtig, sondern die Qualifikation. Außerdem sind 20-Jährige nicht automatisch gegenüber neuen Entwicklungen aufgeschlossener als 60-Jährige. Was glauben Sie, was ich schon an verbohrten 20-Jährigen gesehen habe? Und daneben 58-Jährige, die neu durchstarten. Skills matter, not age. Die Fähigkeiten sind entscheidend, um sich im Arbeitsleben zu behaupten. Das heißt: Wer nicht vorhat, in den nächsten zwölf Monaten in Rente zu gehen, muss noch etwas Neues lernen.“ Klaus Schroeder schreibt im Schlussabsatz sebes FAZ-Artikels, er wolle seine Studenten zu der Selbstverständlichkeit „ermuntern, sich ausreichend Wissen anzueignen, bevor sie Urteile abgeben.“ Beides betrachte ich als Appell auch, ja gerade an – nicht nur (!!!) – junge Kolleginnen und Kollegen in den Medien.
Das Glaubwürdigkeits-Defizit
Für die Demokratie höchst gefährlich und Futter für die AfD ist das Phänomen, das Boris Palmer in seinem Buch „Wir können nicht alle aufnehmen“ beschreibt: „Wie ist es möglich, dass der öffentliche und der halböffentliche Diskurs so auseinanderfallen?“ In Berlin habe er nur Politiker, Journalisten und Wissenschaftler getroffen, „die Merkels Grenzöffnung als schweren Fehler betrachteten“, schreibt er und zeigt sich verwundert, dass der öffentliche Diskurs völlig anders sei: „Willkommenskultur“. Als WELT-Herausgeber Stefan Aust in der von mir moderierten „Tafelrunde“ in den Neuen Kammern von Schloss Sanssouci in Potsdam zu Gast war (zusammen mit WELT- und Buchautor Robin Alexander – „Die Getriebenen“ – und Martina Fietz, damals „Focus“), berichtete Aust, wie der frühere Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestags, Thomas Oppermann, bei der WELT zur Blattkritik zu Gast war. Bei einem anschließenden Mittagessen habe er sich sehr kritisch zu Merkels Flüchtlingspolitik geäußert. Abends, in einer Talkshow im Fernsehen, habe Oppermann dann das genaue Gegenteil erzählt. (Mitschnitt der Veranstaltung siehe auf meiner Seite „Ihr Moderator“) Das spüren die Menschen, das zerstört Vertrauen in die Politik und ist eine der Ursachen für das Erstarken der AfD. Der Versuch, durch Verschweigen die AfD zu schwächen, scheitert. Das Gegenteil wäre erfolgreich.
Journalisten im Chill-out?
Ich komme noch einmal darauf zurück, was ich bereits am 12.09.2017 in der FAZ im Nachgang zum sogenannten TV-Duell Merkel-Schulz geschrieben hatte (Journalisten im Chill-out), nämlich, dass das Fernsehen es den Politikern zu leichtmache. Als Beispiel nannte ich: „Wochenlang war Horst Seehofers Verlangen medial gespielt worden, die Kanzlerin solle die Grenzöffnung als Fehler zugeben. Im ‚TV-Duell’ räumte sie sogar außenpolitische Fehler ihrer Regierung ein. Aber warum werden sie und andere Unions-Leute nicht mit diesem Satz aus dem Wahlprogramm konfrontiert, selbst nicht, als Merkel ihre Entscheidung noch verteidigte? ‚Eine Situation wie im Jahre 2015 soll und darf sich nicht wiederholen, da alle Beteiligten aus dieser Situation gelernt haben.‘“ Keiner der Moderatoren, die sich doch sonst für so taff halten, die doch sonst von ihren Scouts jede Äußerung ihrer Gesprächspartner aus jüngster Zeit zusammengestellt bekommen, wollte der Kanzlerin und ihrem Noch-Koalitionspartner vorhalten, was man selbst offenbar nicht als Fehler erachtete. Von den zaghaften Versuchen eines Claus Strunz abgesehen.
Fazit
Kolleginnen und Kollegen aus dem rbb berichten mir hin und wieder vertraulich aus ihrem Alltag. Sie beklagen das, was ich für einen fatalen Fehler vieler Medien halte: Aus Sorge, durch einen Bericht könne man die AfD stärken, werden Themen bewusst unterdrückt, und wenn Berichterstattung nicht zu vermeiden ist, wird sie dann eben klein gehalten. Welcher Grundhaltung das entspricht, habe ich bereits beschrieben. Dabei hatte schon der alte Sozialdemokrat Ferdinand Lassalle nicht nur hinsichtlich der Politik, sondern im Grunde auch in Sachen Journalismus die passende Empfehlung parat: „Alle politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln, was ist.“ Kurt Becks, schon zitiert, mahnte Journalisten, sie seien demokratisch nicht legitimiert, Politik zu machen. Deshalb sollten die Kolleginnen und Kollegen lieber zur Maxime machen, was der frühere Bürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Busckowsky für seine Bücher in Anspruch nahm: „Der Belegschaft des Elfenbeinturms auf den Zünder“ gehen. Und das heißt: Auf den Hosenboden setzen, Recherche, Recherche, Recherche, Lesen, Lesen, Lesen. Weniger Gesinnung, mehr Empirie, und vor allem: tradierte Denkmuster stets infrage stellen, mehr Unerschrockenheit, Offenheit für neue Gedanken sowie mehr unbedingter Wille, die Dinge wirklich zu verstehen. -/-
© Ingo Kahle 2019